Ich schnalle mir meinen Dolch an den rechten Oberschenkel. Manchmal wünsche ich mir, dass er sich auch verwandeln ließe... In einen Ring zum Beispiel oder einen Kettenanhänger. Das wäre so viel praktischer. Aber was solls. Wenigstens kann ich den Dolch nicht verlieren, da er quasi an mich gebunden ist. Schlägt man ihn mir aus der Hand, fliegt er irgendwie durch die Schatten zu mir zurück und taucht in meinem Dolch-Holster am Oberschenkel wieder auf.
Ich schultere meinen vollgepackten Rucksack, schaue nochmal prüfend durch die Hütte, ob ich etwas liegengelassen habe, und laufe dann zum Eingangstor, um mich mit Sky zu treffen.
Er und ich sollen gemeinsam ein paar Pegasi einfangen, die aus den Ställen ausgebrochen sind.

Nachdem ich mich von Luna verabschiedet habe, laufe ich los, um mich mit Evelyn zu treffen.
Ich habe meinen Rucksack geschultert. Normalerweise dürfte ich nicht vergessen haben... Ich habe etwas Nahrung und Klamotten, Geld und Waffen. Obwohl ich nicht glaube, dass ich lang weg sein werde.
Aber man weiß ja nie, was sich Pegasi so einfallen lassen.
Ich verstehe nicht ganz, warum Chiron ausgerechnet mich losgeschickt hat. Immerhin habe ich kaum was mit den Pegasi am Hut. Und ich war auch nicht schuld an ihrem Verschwinden.
Aber was solls.
Ich komme am Treffpunkt an, lasse meinen Blick übers Camp schweifen und warte.

Sky wartet schon.
Ich beschleunige meine Schritte, denn ich kann es kaum erwarten, dass es losgeht.
Mir gefällt es, eine Aufgabe auszuführen und da ich eine Schwäche für Pegasi habe, freut es mich, dass Chiron Sky und mich losgeschickt hat.

Das Camp liegt ganz ruhig vor mir.
Es ist ja auch noch ziemlich früh. Die ersten Sonnenstrahlen fallen mir ins Gesicht.
Ich rücke mein Schwert etwas gerade, da sehe ich Evelyn auf mich zukommen.
"Guten Morgen", wünsche ich ihr, als sie bei mir ankommt.

"Guten Morgen", gebe ich zurück und zurre die Gurte des Rucksacks fester.
Sky scheint nicht so glücklich mit dem Auftrag zu sein, wie ich es bin.
"Sag mal, ist alles okay bei dir, Sky?", frage ich besorgt.

Ich sehe sie an.
Sie ist etwas kleiner und jünger als ich, aber das stört mich auch.
"Logisch", sage ich, als ich ihre Besorgnis bemerke.
"Und bei dir?"
Hoffentlich hat Del sie nicht gegen mich aufgehetzt.

"Alles soweit okay. Ich freue mich, mal wieder für eine Weile dem tagtäglichen Wahnsinn hier zu entkommen."
Ich lächele ein wenig.
Sky schaut mich nachdenklich an und ich merke, wie sein Blick zu den Ställen wandert.
"Ist es wegen Del?", versuche ich einen Schuss ins Blaue. "Oder wegen dem, was ich dir von mir erzählt habe?"

Ja, so kann man es auch sehen.
Ich fühle mich manchmal etwas eingeengt hier. Deswefen verlasse ich das Camp hin und wieder ganz gerne.
Auch wenn das noch andere Gründe hat.
Ich sehe sie wieder an.
"Es ist nichts", sage ich nur.
Was soll denn sein? Selbst wenn Del ihr irgendwas eingetrichtert hat, ändert das nichts an unserer Aufgabe.

Thanatos hüpft wie ein Poltergeist durch meinen Kopf und brüllt: "Diese Feindschaften. Göttlich!"
Manchmal würde ich ihn gerne aus meinem Kopf aussperren, aber aus mir nicht bekannten Gründen hat mein Vater Zugang zu meinen Gedanken und kann dort mit mir kommunizieren.
Ich verdrehe kurz die Augen, schüttele den Kopf und zucke mit den Schultern.
"Gut, wenn alles im grünen Bereich liegt, können wir ja los."
Bloß wohin und womit?

Sie verdreht dir Augen. Das geht ja toll los.
Ich bleibe trotzdem ruhig.
"In welche Richtung müssen wir?", frage ich erst mal.
Chiron meinte etwas von 'Die Pegasi sind Richtung Norden geflogen', wenn ich mich richtig erinnere.

"Nach Norden. Anscheinend haben die Pegasi Lust auf Schnee." Thanatos lacht.
Wenn es nicht oftmals so furchtbar praktisch wäre, dass mein Dad mit mir telepathisch verbunden ist, hätte ich mir schon vor langer Zeit das Gehirn herausschneiden lassen.
Ich sage: "Nach Norden. Aber wie reisen wir?"

Gut, dann hatte ich es wohl doch richtig in Erinnerung.
Auch wenn ich nicht verstehe, was Pegasi im Norden wollen.
Tja, wie kommen wir dahin...
Ich denke nach, aber für mich ist der Flug immer die beste Art zu reisen.
"Ich habe einen Adler", biete ich an.

Stimmt, Nevana hab ich beinahe vergessen.
"Kann sie uns zusammen tragen?", frage ich. "Und nur von vornherein: Wo halte ich mich fest?"
Ich merke wieder, dass ich rot werde.
Man kann nicht gerade sagen, dass ich ein Profi bin bei Angelegenheiten, die das andere Geschlecht angehen. Ich komme zwar gut mit ihnen aus, aber Demigottheiten ticken manchmal doch ein bisschen anders.

Dem Himmel sei Dank hatte sis das nicht vor Nevana gesagt.
Die hätte sich gleich wieder aufgeplustert.
"Nevana könnte auch mehr als zwei Leute tragen."
Ganz sicher.
"Und du kannst dich an den Federn festhalten, aber rupfe ich besser keine aus."
Sie ist da sehr eitel.
Sie wird etwas rot, aber ich verstehe nicht, warum.

"Alles klar. Dann mal los."
Ich wuschele mir kurz verlegen durch die dichten Haare.
Ich weiß doch, wie riesig der Adler ist. Wieso frage ich dann so dummes Zeug? Egal.
Erwartungsvoll sehe ich Sky an.

Ich konzentriere mich und schicke ein paar Gedanken los.
°Nevana, könntest du-°
N: °Ich dachte schon, du fragst nie°, unterbricht sie mich sofort.
Ein paar Augenblicke später höre ich Flügelschlagen und einen Moment danach setzt sie, kräftig mit den Flügeln schlagend, vor uns auf dem Boden auf.

Bei dem starken Wind, den Nevana mit ihren Flügeln erzeugt, bin ich froh, dass ich kein Kleid oder Rock trage. Hosen sind sowieso viel bequemer.
Ich begrüße den Adler: "Hi, Nevana. Geht es dir gut?"

Nevana stößt ein zufriedenes Kreischen aus und neigt kurz den Kopf zur Begrüßung.
"Sie meint, es geht ihr gut und fragt, wie es dir geht."
Den Teil, indem sie darum bittet, dass ich ihr Gefieder, das heute so wunderbar glänzt, bewundern soll, lasse ich mal weg.
Ebenso erwähne ich auch nichts von ihrer Bitte nach Mäusen oder anderen Leckereien.

"Danke, auch gut. Du hast dich schick gemacht, oder?"
Als Mädchen habe ich irgendwie einen Blick dafür entwickelt, wenn jemand etwas an sich besonders zur Geltung bringen will und Nevana präsentiert sich, als würde sie den ersten Platz in einem Adler-Schönheitswettbewerb gewinnen wollen.
Ich lächele den Vogel an.

Ich werfe Nevana einen genervten Blick zu.
Jetzt kann ich mir wohl den ganzen Flug anhören, dass ich ihr Gefieder auch so sehr bewundern sollte, wie Evelyn.
N: °Ich weiß, ich sehe einfach fantastisch aus. Wie immer.°
Ich sehe Evelyn an.
"Ja hat sie. Kanns jetzt losgehen?", lenke ich schnell vom Thema ab.
Das Beautythema ist nicht so meins.

Offenbar scheint Sky genervt zu sein.
Ich nicke schlicht und klettere zu ihm hoch auf Nevanas Rücken.
Thanatos' Stimme ist ganz sanft, als er nun mit mir spricht: "Als du geboren wurdest, da hat es in Kalifornien geschneit. Und in Griechenland. Ich bin durch den Schnee geeilt, als Mina und du wenige Tage später Zuhause wart. Ich wollte dich nur einmal sehen. Von Angesicht zu Angesicht. Du hast geschlafen und ich habe dich in die Arme genommen und bin mit dir durch den Schnee geflogen. Langsam zwar nur, weil ich fürchtete, dass ein kleines Halbblut schnell erfriert oder die Schneeflocken dir bei hoher Geschwindigkeit wehtun könnten, aber wir sind zusammen geflogen und da wurdest du wach und hast gelacht."
Ein kurzes Bild davon, wie Thanatos mich als Baby an sich drückt und in einem verschneiten Tal umherschwebt, blitzt vor meinem inneren Auge auf und ich lächle.
Wie das wohl bei Sky war? Wann ist er das erste Mal geflogen? Ich beschließe, ihn zu fragen.
"Sky, wann bist du das erste Mal geflogen? Weißt du das noch?"

Ich helfe Lily dabei, hoch zu klettern und vergewissere mich, dass sie gut sitzt.
Ich gebe Nevana das Zeichen zum Abheben und sie breitet die Flügel aus.
Ich sehe Lily an, als sie mir eine Frage stellt.
"Zum ersten Mal bin ich auf meinem Weg zum Camp geflogen, als ich auf der Flucht vor ein paar Monstern war."
Das war damals echt überraschend gewesen...
Nevana schlägt mit den Flügeln und wir heben ab.
Langsam wird die Erde unter uns kleiner und wir fliegen los Richtung Norden.

Ich lege meinen rechten Zeigefinger an meine Nasenspitze, wie ich es oft mache, wenn ich nachdenke, und lasse mir die Worte durch den Kopf gehen. Zum Glück fliegt Nevana ziemlich ruhig, sodass ich mich nicht mit beiden Händen festhalten muss.
"Du kannst also auch ohne Hilfsmittel oder Riesenadler fliegen?"
Das würde Sinn machen. Schließlich ist Sky ein Sohn des Zeus.
"Ich vermute mal, dass das ziemlich an den Energiereserven zieht?"
Warum sonst fliegt Sky nicht selber?

Ich fahre über Nevanas Federn und sehe in die Ferne.
Eine sanfte Brise sweht mir ins Gesicht und ich sehe zu, wie das Camp hinter uns verschwindet.
"Das Fliegen zehrt eigentlich nicht so sehr an meinen Reserven."
Nicht so sehr wie das Kontrollieren von Windgeschöpfen, das Erzeugen von Blitzen oder das Heraufbeschwören eines Sturms.
"Es sei denn, ich fliege lange und nicht alleine", erkläre ich ihr.

Ich greife wieder mit beiden Händen in die weichen Federn des Adlers und nicke langsam.
"Dann hast du doch einen tollen Vorteil bei der Pegasus-Jagd."
Der Wind, der an uns vorbeizischt und meine Haare aufwühlt, hat was Verspieltes an sich. Als würden Luftgeister um uns herumjagen.
Verträumt starre ich in Nevanas Gefieder.