Früher Morgen im Camp. Ich bin schon wach.
Oder eher, immer noch. Diese Nacht habe ich
kaum geschlafen. Im Traum verfolgten mich
ihre Gesichter, ihre höhnischen Fratzen, ihr
herzloses Lachen.
Fröstelnd tappe ich durch das stille Camp zum See,
bleibe dort für einen Moment stehen und starre ins
Wasser.
Schon oft habe ich ihre Gesichter im Traum
wiedergesehen. Aber sie waren immer unschärfer
geworden. Obwohl ich sie nicht vergessen konnte,
konnte ich sie nicht mehr klar erkennen. Als würde
ich im Traum weinen. Tue ich auch, aber das spielt
keine Rolle.
Im leicht sich kräuselnden Wasser erkenne ich ein
Gesicht wieder, wie ein ziemlich deutlicher Hinweis. Ich weiß
nicht genau, was es zu bedeuten hat, aber ich weiß
zumindest, wen ich suche. Mehr oder weniger.
Dunkles Haar und ein ernster, schwermütiger Blick,
zurückgezogenes Wesen.
Man spricht nicht besonders viel von ihm im Camp.
Man sieht ihn kaum. Aber anscheinend muss ich zu
ihm.

Es ist noch sehr früh, doch ich bin schon längst wach.
Ich gehe raus aus der Hütte und sehe kurz den dunklen
Himmel entgegen.
Dann gehe ich die kleinen Stufen runter und den schmalen
Weg entlang.
Ich sehe hinüber zum Pfad der zu diesem See führt.
Ein merkwürdiges Gefühl durchläuft mich, doch ich bleibe einfach stehen.
Ich sehe noch ein Mal kurz rüber, bevor ich Richtung Wald gehe und
mich dort auf die Steinen setze, so wie ich es oft tue.

Es ist nur ein Gefühl, aber als mein Rücken kribbelt,
drehe ich mich um. Ich sehe zwar niemanden, aber das
heißt gerade in diesem Camp gar nichts. Irgendwer ist
immer wach. In der Nyx-Hütte ist um diese Uhrzeit häufiger schon jemand wach. Der Ältere soweit ich weiß.
Langsam gehe ich weiter, wende mich Richtung Wald und
ziehe meine dünne Jacke enger um mich.
Wie von selbst steuere ich auf die Stelle zu, wo ich Caleb das erste Mal spielen hörte. Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen.
Aber nur für einen Moment.
Ich schaue mich um. Die Gestalt, die ich auf Steinen sitzend,
erblicke, überrascht mich nicht. Ich hatte geahnt, dass er hier sein würde.
Tyche fädelt das immer wunderbar ein.

Verstohlen kritzele ich etwas in mein kleines Notizbuch,
doch dann bemerke ich etwas.
Ich schließe es schnell und stecke es in die Innentasche
meiner Jacke.
Ich sehe auf und erblicke ein Mädchen.
Ich sehe sie musternd an, was will sie so früh?
Irgendwie habe ich das Gefühl, als müsste ich es wissen, doch
ich habe keine Ahnung.
Ich sehe sie einfach an, ohne ein Wort zu sagen und warte darauf,
ob sie näher kommt.
Vielleicht will sie auch gar nicht zu mir.
Die Meisten kommen nie zu mir.

Merkwürdig, wie beruhigend ein zeichnender
junger Mann wirken kann. Sein Blick trifft meinen,
wartet. Langsam gehe ich auf ihn zu setzr mich auf
einen Stein in seiner Nähe und schaue in den Morgenhimmel.

Ich sehe sie noch kurz an, als sie sich dann letzendlich
in meiner Nähe setzt.
Kurz sehe ich dann um mich herum, danach wieder zu ihr.
"Kann ich dir helfen?" frage ich ruhig.

Die letzten Sterne blinken durch die zarten Wolken und
etwas verträumt zeichne ich mit ihnen Bilder wie beim
Malen nach Zahlen.
Seine Stimme lässt mich den Blick ihm zuwenden.
Ich nicke einmal. Seine Stimme ist sanft und doch
distanziert.
Musternd gleitet mein Blick über ihn. Er ist stark, groß
und trainiert. Zumindest im Vergleich zu mir.
Für einen Moment frage ich mich, ob es nicht absoluter
Wahnsinn war, zu ihm zu kommen, aber dann verdränge
ich den Gedanken wieder.

Ich nicke.
"Okay" sage ich dann.
Ich sehe sie immer noch an. Hat sie Angst vor mir?
"Wie kann ich dir helfen?" frage ich und blicke ihr direkt in
die Augen.

Er spürt es. Da bin ich mir sicher. Er spürt,
dass ich ihm nicht ganz vertraue.
Aber für das, was ich vorhabe, muss er mir
helfen. Nehme ich wenigstens an.
Langsam stehe ich auf, setze mich direkt neben ihn
und deute auf seine Brust, an der er ein Notizbuch
verborgen hält.

ich sehe auf mein Notizbuch.
Dann sehe ich sie etwas stirnrunzelnd an.
Ich schlage eine Seite auf, wo noch nichts draufsteht und gebe
ihr vorsichtig das Notizbuch.

Er hält mir das Buch hin und ich nehme es vorsichtg
entgegen, setze den zugehörigen Stift an und schreibe
in raschen, geschwungenen Buchstaben: Ich heiße
Samantha. Ich glaube, du musst etwas für mich zeichnen.
Ich schiebe ihm das Buch wieder zu und sehe ihn an.

Ich nehme das Buch wieder an und lese.
Ich soll etwas für sie zeichnen?
Ich räuspere mich kurz und sehe dann wieder zu ihr rauf.
"Okay, was soll ich zeichnen?" frage ich dann und blicke
wieder auf das Notizbuch, das ich ihr wieder gebe.

Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen. Er ist der
Erste, der sich nicht wirklich darüber wundert, dass
ich nicht rede.
Mit meiner runden Schrift bedecke ich weiter das Papier.
Es sind sozusagen Phantombilder. Also ein paar
Jungs.
Abwartend hebe ich den Blick, behalte den Stift jedoch
bei mir.

Ich hebe eine Augenbraue.
Ein paar Jungs.
Phantombilder.
"Okay" sage ich dann nochmal.
"Du musst sie mir dann ganz genau beschreiben. Damit meine ich
nicht nur wie sie aussehen also Haare, Augen undso, sondern ich
brauche genaue Detaills" sage ich ernst.

Sein Blick ist skeptisch. Ob er dem nicht gewachsen ist?
Details? Was meinst du?, schreibe ich stockend und kaue
nervös auf meiner Unterlippe.
Details... Ich kenne jedes Detail ihrer Miene, ihrer Bewegungen,
ihrer Stimmen und ihrer... Körper. Zu viele Details...
Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter und widerstehe
gerade so dem Drang aufzustehen und fortzulaufen. Aber ich
darf nicht fortlaufen. Nicht mehr.

ich bemerke, dass es ihr nicht gerade gut geht dabei,
doch wenn sie Phantombilder will, muss sie das machen.
"Du musst genau beschreiben wie was aussieht. Die Form, wo genau
es ist, wie genau es aussieht. Verstehst du?"
Ich sehe sie mit einem sanften Blick an, damit sie nicht solche Angst hat.

Verschüchtert nicke ich.
'Du willst doch kämpfen! Du musst doch kämpfen!', feuere
ich mich selbst an. Ein tiefer Atemzug und ich fange an zu schreiben:

1.) Blaue, weit auseinander stehende Augen, hellbraunes Haar in leichten Wellen aber relativ kurz, schmale, harte Lippen, schiefe Zähne und ein hervorstehendes Kinn mit einer tiefen Grube in der Mitte, eine eher stubsige schiefe Nase mit winzigen Nasenlöchern, der Kopf ist beinahe quadratisch mit einer breiten hohen Stirn und pausbäckige Wangen, der Blick... höhnisch, grausam, kalt. Schmale, dichte Augenbrauen und sonst ein kräftiger, kompakter Körper. Ein leichter eher blonder Bartflaum ist auch schon da.

Ich schiebe das Buch weg, rolle mich etwas zusammen und
hole ein paar mal tief Luft. Das wäre der Erste. Das war Samuel.

Ich sehe ihr beim Schreiben zu.
Ihre Hände zittern etwas, aber dann ist sie auch schon fertig.
"Gut so" sage ich und nehme das Notizbuch an mich.
Ich nehme den Stift und versuche ihn so gut wie Möglich zu zeichnen,
nach den Vorlangen die sie mir gegeben hat.
Nach einer Weile bin ich fertig.
"Stimmt das so ungefähr?" frage ich sie dann.

Ich werfe nur einen kurzen Blick auf die Zeichnung,
gestatte mir keinen längeren Moment und nicke dann
hastig. Das ist Samuel, wie er leibt und lebt. Der liebste
Schläger von Paul. Sein Arm, wenn er sich selbst zu
schade für irgendwas ist.
Ich halte das Bild mit den Händen zu und versuche
mich zu entspannen. Ethan soll nicht merken, wie
schwierig das ist.
Nach einer Weile nehme ich die Hände wieder weg und
sehe das Bild bewegungslos an.
Wie gerne ich es zerreißen würde, ihn das spüren lassen will.
Aber der echte Samuel wird es nicht spüren. Gar nichts.
Ich nicke noch eimmal und blättere um.

2. Ein Mann. Um die 35 Jahre alt. Groß, muskulös. Schlank, breite Schultern, starke Arme. Blondes glattes Haar. Etwas strubbelig. Ein markantes Gesicht. Ein bisschen wie Arnold Schwarzenegger, aber härter. Lächelnd. Nett. Grüne, strahlende Augen. Etwas schmaler und dichter beieinander. Eine Narbe am Hals, geformt wie eine Drei, bloß eckiger. Strahlende weiße Zähne. Hohe Wangenknochen.

Ich versuche mich zu verstecken, damit der Junge hier nicht mein Gesicht sieht. Ich spüre die Tränen schon. Aber ich dränge sie zurück.

Ich sehe ihre Schmerzen und lege vorsichtig meine Hand auf
ihre Schulter.
"Du machst das gut" sage ich und versuche ihren Blick zu finden.
Nachdem sie fertig ist nehme ich das Notizbuch wieder an mich und
fange an zu zeichnen.
Dieses Mal dauert es etwas länger, da dieser hier schwieriger zu zeichnen ist,
doch ich versuche es so gut wie es nur geht.
Ich habe das Gefühl, dass es sehr wichtig für sie ist und will sie nicht enttäuschen.
Als ich fertig bin zeige ich ihr die Zeichnung wieder.

Ich schüttele den Kopf.
Gut? Ich mache gar nichts gut. Ich mache alles falsch.
Absolut alles.
Seine Hand auf meiner Schulter ist schwer und kräftig.
Vorsichtig schiebe ich die Hand weg und rücke leicht ab.
Für solche Vertrautheiten bin ich nicht bereit. Besonders
nicht jetzt. Nicht, während er meine Erinnerungen aufs Papier bringt.
Er zeichnet den letzten Strich und Wayne schaut mich
vom Papier her an. Wayne, der Kinderpfleger und -erzieher.
Der Knoten in meinem Magen maht einen Salto und ich
ziehe die Knie an und schlinge die Arme um meine
Brust, als könnte das irgendwas helfen. Tut es aber nicht.
Ich nicke und sehe zur Seite.
Mein Herz hämmert hart gegen meine Rippen.

Vorsichtig sehe ich sie an, so als könnte sie jeden Moment zerbrechen.
Irgendwas an ihr kommt mir so vertraut vor...doch ich will nicht daran denken.
"Weißt du, Erinnerungen können sehr schmerzhaft sein, aber ohne sie wärst
du nicht du" versuche ich ihr zu sagen.
Wie gerne würde ich einige meiner Erinnerungen löschen wollen, so wie sie
es bestimmt auch will.
Aber das darf nicht sein, das weiß ich nur zu gut.
Ich lasse meine Hand dieses Mal einfach da wo sie ist und versuche sie auch
nicht zu beruhigen.
Manchmal macht so was etwas nur noch schlimmer.

Ich nicke kaum merklich deücke das Buch nach
einem langen Blick auf die Zeichnung weg und
drehe mich weg.
Vielleicht reicht das für heute schon. Vielleicht
sollte ich mich nicht übernehmen. Wahrscheinlich
kann sowas nicht mal eben so gemacht werden.
Mit dem linken Zeigefiger zeichne ich unsichtbar
die Buchstaben O und K auf den Stein.
Zwei Bilder pro Tag. Dann würde es 5 Tage dauern.
Und es wäre immer noch nicht vorbei.

Ich nicke und behalte das Notizbuch und stecke es wieder
in meine Innentasche der Jacke.
Ich sehe sie kurz an, frage aber nicht ob sie noch mehr Bilder braucht.
Sie sollte sich jetzt erst mal beruhigen und dabei will ich sie nicht stören.
Ich stehe auf und sehe kurz in den Himmel.
"Ich gehe dann mal essen" sage ich ohne mich weiter zu verabschieden
und gehe Richtung Hütte.

Erste Sonnenstrahlen kitzeln mein Gesicht, spielen
mit meinem Haar. Still betrachte ich ihr Glitzern in
ihnen und seufze. Wieder allein. Dabei weiß ich noch
nicht einmal seinen Namen.
Langsam drehe ich mich um, blicke ihm nach und
stehe dann auch auf. Zwar habe ich Hunger, aber ich fühle
mich nicht bereit, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen.
In Gedanken versunken, dunklen drückenden Gedanken, tappe
ich zum Haupthaus zurück.
Ein wenig hinlegen sollte helfen.